Zum Irrlicht

"Ich sehe hier auch sonst niemanden, der dich zwingen würde, bei mir zu bleiben." Dominic sah sich einen Augenblick um, wer von den Rungholtern noch im Irrlicht anwesend war. "Es sind nur ein paar Leute da, die es eventuell unterstützen würden, wenn du das machtest. Vielleicht noch eine kleine Szene dazu und eine blutige Nase für mich oder ein ekliger Fluch." Dominic verschränkte die Arme hinter dem Kopf und klang ein wenig bekümmert, als er fortfuhr. "Gegen das erste könnte ich mich nicht mal wehren, wenn ich wollte und gegen das andere so bestimmt auch nicht, wenn du nicht schnell genug bist." Das war natürlich gelogen, weil er den Zauberstab nicht wie die meisten Zauberer an der Gürtellinie befestigt hatten, sondern seiner im Ärmel steckte. Aber er wusste nicht, ob Clue das wusste. Und selbst wenn, sich schutzlos auszuliefern konnte ja niemand von ihm verlangen.
"Was das Meiden betrifft, hat sich das eben so ergeben. Ich habe kein Problem damit, dass ich für die meisten Leute entweder Luft oder ein Freak bin, den man besser nicht beachtet. Sind in den allermeisten Fällen eh Idioten. Da kann ich meine Zeit besser mit mir selbst verbringen. Ich will damit gar nichts erreichen, das ergibt sich halt so. Divergierende Interessen, gegenseitige Abneigung in einigen Fällen. Geht dich aber eigentlich auch gar nichts an."

"Würde mich jemand dazu zwingen, würde ich mich wahrscheinlich dagegen wehren. So war das schon immer." Clue zuckte mit den Schultern. So war es auch mit Rungholt gewesen. Seine Eltern wollten ihn zwingen - und er war abgehauen. Aber Sternchen hatte ihn letztendlich doch noch überzeugen können. Ohne ihn zu zwingen.
Dominic war der Meinung, er würde sich nicht wehren können? Innerlich lachte Clue laut auf. Wenn er doch nur wüsste! "Vollkommen egal, was die anderen erwarten oder sich vorstellen. Wenn es für dich nicht allzu schlimm ist, bleib ich noch eine Weile bei mir." Würde er so oder so. Selbst wenn es schlimm für Dominic wäre. Denn Clue wusste nicht, wo er sonst hingehen sollte. Das Treffen und Gespräch mit Anaximander stand immer noch bevor und der Junge wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Konnte er sich davor drücken?
Während er Dominics Worten lauschte, nahm er einen Schluck seines Tees. "Dafür dass es mich nichts angeht, warst du aber doch ganz schön ehrlich. Vorausgesetzt alles, was du gesagt hast, entspricht der Wahrheit", meinte Clue grinsend. Langsam strich er sich durch die Haare. "Nun. Mich bezeichnen auch viele als Freak."

"Aber ob ich die Wahrheit gesagt habe, weißt du nicht mit Bestimmtheit. Ich könnte dich auch eiskalt angelogen haben." Dominic ließ die Arme wieder sinken und setzte sich bequemer hin. "Ich könnte natürlich auch einfach einen inneren Konflikt ausgefochten haben, dass ich dazu neige, die Wahrheit zu sagen oder zu schweigen und das Schweigen als unhöflich in dieser Situation verworfen habe. Vielleicht hast du auch noch eine bessere Theorie. Such dir eine aus, die dir gefällt. Ich wette, hier hat jeder so seine Theorie über mich." Er klang ein wenig trotzig, als er das sagte.
"Ich weiß gar nicht, ob mich jemand schon explizit einen Freak genannt hat." Dominic legte die Stirn in Falten. "Anaximander zieht 'abnormaler Spinner' vor. Der Rest meidet mich ja meistens, ich glaub, die nennen mich höchstens gemein und grob." Die Bitte, noch eine Weile seine Gesellschaft genießen zu dürfen, beantwortete Dominic weder positiv noch negativ, aber da er keine Anstalten machte, Clue fortzujagen, ging er davon aus, dass das als Antwort reichte. "Bei dir ließe sich das mit ner anständigen Frisur allerdings recht schnell beheben. Sieht ja auch scheußlich aus, was du da auf dem Kopf hast."

Nickend stimmte Clue Dominics Aussage zu. "Es gibt immer viele Möglichkeiten. Aber um es uns beiden mal einfacher zu machen, gehe ich einfach davon aus, dass du mir die Wahrheit gesagt hast." Ob das letztendlich so gewesen war oder nicht, würde Clue nie erfahren, aber es reichte ihm, sich einzubilden, dass Dominic ihm nichts vorspielen wollte.
"Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass du gemein und grob sein sollst." Clue betrachtete Dominic eingehend. Eigentlich sah er aus wie ein ganz gewöhnlicher Junge. Was war nur schief gegangen, dass die meisten ihn mieden und er ebenfalls die anderen mied? Es gab Dinge im Leben, die würde Clue nie verstehen. Genauso wie er nie verstehen würde, wieso er jetzt plötzlich hier gelandet war. Nach so vielen Jahren normales Leben. Normale Schule. Normale Freunde. Fernsehen. Essen. Draußen rumhängen. Feiern. Schlafen. Alles, wie ein normaler Junge. Und jetzt, jetzt war er hier und plötzlich war nichts mehr normal. Nicht nur, dass er gegenüber von Dominic saß und dass er zaubern konnte, nein, auch die anderen merkwürdigen Dinge, die um ihn herum geschahen.
"Meine Haare sind aber das einzige, was mich daran erinnert, wer ich eigentlich bin", sagte er leise. So leise, dass man es ohne Probleme überhören konnte - wenn man denn wollte.

"So? Nicht gemein und grob? Warum bloß? Nur weil ich viel kleiner bin und schwächlich wirke? Ich hasse solche Äußerlichkeiten. Was bildest du dir eigentlich ein, du Fatzke? Ooooh, der Kleine kann doch nicht ernsthaft glauben, dass er irgendwie böse wirken könnte... Hm? Ist es das, was du denkst? Du bist so ein eingebildeter, arroganter Mistkerl... Das kann ich kaum fassen." Dominic hatte nur einen Augenblick an die letzte Auseinandersetzung mit Anaximander denken müssen, um rosa anzulaufen und grantig zu klingen. Jetzt atmete er einmal tief durch und räusperte sich. Dann trank er noch einen Schluck Tee und bemühte sich, seine Fassung wieder zu gewinnen. "Hast du jetzt eine Vorstellung? Hat wahrscheinlich sein Gutes. Du fällst nicht aus allen Wolken, wenn du mir auf die Nerven gehst."
Dominic schwieg einen Augenblick. Er entspannte sich wieder sichtlich, auch wenn er ein wenig verkniffen wirkte. Er hatte Kopfschmerzen und trank noch einen Schluck. Er gestikulierte der Kellnerin, weil seine Teetasse leer war. Dann betrachtete er noch einmal Clues Frisur. "Ein... Das sieht wie das Ding aus, mit dem meine Oma Staub wischt... Ohne dir zu nahe treten zu wollen. Wenn das da deine gesamte Identität ist, dann würde ich mir Gedanken drüber machen, das klingt nach ner ziemlich kümmerlichen Identität. Und mit sowas kenn ich mich aus." Er nickte bedeutungsschwer.

Clue zuckte zusammen, als Dominic plötzlich loslegte. "Hey.. so.. so wars doch nicht gemeint", stammelte er erschrocken, bis er bemerkte, dass Dominic ihm nur demonstrieren wollte, dass er sehr wohl gemein und grob sein konnte. "Oh man." Verlegen grinste er den Jungen an. "Okay, ich nehms zurück. Du kannst wirklich grob sein."
Dominic hatte seine Tasse schon geleert und Clue hatte es noch nicht einmal geschafft, die Hälfte seines Tees zu trinken. Wieder nahm er einen kleinen Schluck, während er überlegte, was er darauf antworten sollte. "Vielleicht bin ich das ja. Nur eine kümmerliche Identität. Was sagt schon der Name über eine Person aus? Nur weil ich Zandor heiße..." Seufzend brach Clue ab und schüttelte den Kopf. Es war noch lange nicht an der Zeit, Dominic über sein ganzes Leben aufzuklären, doch er wollte gleich zu Beginn klarstellen, dass er nicht wie Anaximander war und nicht so wie Anaximander dachte. Vielleicht würde ihm das helfen.

Dominic verdrehte die Augen. "Genau das ist das Problem mit euch Reinblütern, dass ich euch am Liebsten über euren Familiennamen definiert. Was bin ich froh, dass ich nicht mit einem bekannten Familiennamen gestraft bin. Aber wenn dir das klar ist, was jammerst du mir denn die Ohren voll? Tu was dagegen. Was anderes hilft nämlich nicht." Offenbar hatten die Lektionen, die Pascal Dominic eingebläut hatte, offenbar doch mehr Wirkung gezeigt, als dieser es für möglich gehalten hätte, auch wenn Dominic einen rüderen Ton anschlug, das war bei ihm nunmal jahrelang eingeübt. "Such dir jemand, der Ahnung hat. Bei euch Reinblütern sind das wahrscheinlich die schwarzen Schafe, über die keiner in der Familie redet, weil sie sich daneben benommen haben in den Augen der Anderen." Dominic zuckte mit den Schultern. Dann schaute er nachdenklich drein. "Und klammere dich an nix, was du sowieso nicht haben oder zurückhaben kannst."
Wenn er sich von außen betrachten könnte, dann würde Dominic über sich selbst den Kopf schütteln, so viele Stimmungsschwankungen wie er heute durchmachte, vor Allem Stimmungen, die er sich sonst nur in geschützten Räumen gönnte. Zum ersten Mal in diesem Gespräch sah Dominic wirklich betrübt aus.

Darüber zu diskutieren, dass er sich gar nicht über seinen Familiennamen definierte, würde wohl nichts bringen, deshalb widersprach Clue Dominic in diesem Fall auch erstmal nicht. "Was soll ich denn dagegen tun? Das ist..", Clue zuckte zögernd mit den Schultern. "Es gibt einfach so Dinge im Leben, die sind so und werden im schlimmsten Fall immer so bleiben. Wer sich dagegen auflehnt, hat Probleme. Wenn ich könnte, wenn ich irgendwie eine Art von Einfluss hätte, würde ich versuchen, etwas zu ändern. Aber was kann ich schon bezwecken?" Erneut zuckte er mit den Schultern. Genauso, wie er es hasste, wenn die Menschen homosexuelle Personen nicht akzeptierten, so hasste er auch dieses Reinblütler Verhalten in der Zaubererwelt. Dieses Beispiel wollte er jetzt nicht unbedingt nennen, aber vielleicht würde Dominic auch so verstehen, was er meinte. "Das ist aber ziemlich schwer manchmal." Clue seufzte. Vielleicht sollte er aufhören, sich an Sternchen zu klammern. An seine Freunde. Die Asphaltengel. Er hatte sogar seine besten und engsten Freunde angelogen! War das eine gute Voraussetzung für eine Freundschaft? Für wahre Freundschaft? Dann fiel sein Blick auf Dominic. Auch ihn hatte er angelogen. Irgendwann musste er damit aufhören. Irgendwann musste er die Wahrheit sagen, egal wie schmerzhaft sie war.

"Blödsinn," erwiderte Dominic kurz und bündig, dann sah er Clue ernst an. "Natürlich gibt es Dinge im Leben, die man nicht ändern kann, aber die Dinge muss man akzeptieren oder an ihnen kaputt gehen. Du hast eine ganz einfache Wahl... Geh kaputt." Dominic zuckte mit den Schultern und seufzte.
"Natürlich ist es verdammt schwer, das musst du mir nicht erzählen," Dominic sah plötzlich grimmig drein. "Meinst du, das wüsste ich nicht? Wenn..." Dominic zögerte einen Augenblick. Clue machte ihn irgendwie zornig. Er wusste nur nicht, woran es genau lag. 'Also ich finde, irgendwie ist er dir ähnlich, lieber Hohensayn. Wenn ich ihm so zuhöre, fühlt der sich als Außenseiter und das ist schließlich eine Haltung, die du ausgiebig kultiviert hast. Dieses elende Gejammer, dass man nichts ändern kann und dass alles Mist ist und über deine Kräfte hinausgeht, das durfte ich mir lang genug von dir anhören.' "Ach halt doch die Klappe..." Dominic sagte das nicht zu Clue, sondern irgendwie in die Luft hinein. Dann kam die Bedienung heran. 'Ich finde, du könntest ihm ein wenig moralische Unterstützung anbieten, indem du ihm verklickerst, wie sich das anfühlt, mit seinem Schicksal zu hadern. Damit kennst du dich schließlich aus, Hohensayn.'
Dominic war dankbar dafür, dass sich zwangsläufig eine kurze Gesprächspause ergeben hatte und orderte einen Baldriantee. Seine Nerven bedurften der Schonung. Dann sah die Bedienung zu Clue, ob er auch etwas wünschte.

"Du hast eine ganz einfache Wahl... Geh kaputt." Clue seufzte. War er nicht schon längst dabei, kaputt zu gehen? War er vielleicht schon kaputt? Wann fing man an kaputt zu sein - und wann hörte das 'kaputt werden' auf und wurde zu 'vollständig kaputt'? Waren Straßenkinder nicht genau das, was die Gesellschaft als kaputt bezeichnete?
An Dominics Reaktion bemerkte Clue, dass dieser ihn sehr gut verstand. Besser, als Clue gedacht hätte. Seine Reaktion war irgendwie verständlich. Es beruhigte Clue auf eine merkwürdige Art und Weise, dass er so reagierte. Denn das hielt ihn davon ab, ihm zu viel von seinem Leben zu erzählen. Von seinem Leben, das kaum jemand kannte.
"Ach halt doch die Klappe.." Der Junge war sich zwar nicht sicher, ob Dominic wirklich ihn mit diesem Satz gemeint hatte, irgendwie hatte er plötzlich gedankenverloren ausgesehen, doch trotzdem beschloss er, ihn beim Wort zu nehmen. Und so hielt er die Klappe. Bis die Bedienung kam. Seine Tasse hatte sich im Laufe des Gespräches doch noch geleert und jetzt hatte er wieder die Qual der Wahl. Welchen Tee sollte er dieses Mal probieren? "Sonnenblumentee", bestellte er und zuckte mit den Schultern. Was sollte schon passieren. Wenn der Tee nicht schmecken würde, dann würde er eben nicht schmecken. Auf der Straße hatte er schlimmere Sachen gegessen und getrunken - wenn es überhaupt etwas gegeben hatte.

Dominic knabberte nachdenklich an einem seiner Fingernägel. Das tat er nur ausgesprochen selten, aber er musste irgend etwas tun, während er, Clue nachdenklich musternd, mit sich rang, ob er etwas sagen sollte, wie sein Gewissen ihm mittlerweile geraten hatte. Er seufzte resignierend, als die Bedienung weg war und gab sich sichtlich einen Ruck. Er hörte auf, an seinem Fingernagel zu knabbern und fing möglichst nüchtern, aber gedämpft, an zu sprechen.
"Wenn du eines Morgens aufwachst mit dem Gedanken im Kopf, dass du schwul bist, dann sagst du auch nicht 'Super, alles klar.' Dann bricht erst einmal eine Welt zusammen, zumindest ging mir das so. Das ist wie ein Brett vor'm Kopf. Du versuchst, dich dagegen aufzulehnen..." An dieser Stelle lachte Dominic leise, aber es klang freudlos. "...aber wie willst du das machen? Schonmal versucht, dich gegen dich selbst aufzulehnen? Wenn ja, weißt du wohl, wie das ist, wenn nicht, dann vergiss es, es kann nicht gelingen." Er schüttelte den Kopf. "Vielleicht versuchst du, vor dir wegzulaufen, im wahrsten Sinne des Wortes. Aber vor der Erkenntnis, dass es was in deinem Leben gibt, das du nicht ändern kannst, davor kannst du nicht weglaufen. Das musst du hinnehmen oder dran kaputt gehen. Beides tut verdammt weh und du weißt nicht immer, was du grad machst." Er schnaubte. Dann hob er seine Stimme wieder auf Normalniveau.
"Also erzähl mir nichts von Dingen im Leben, die du nicht ändern kannst, ja? Es ist an dir und nur an dir allein, dass du damit umgehst. DU musst wissen, was du willst und dann musst DU gucken, wie du das erreichen kannst. Du hast es in der Hand. Dabei kann man Hilfe bekommen, aber die musst wiederum DU einfordern. Also frag gefälligst nicht, was du schon bezwecken kannst, sondern sei wenigstens so ehrlich zu dir, dass du dir klar bist, wie dein Leben läuft." Dominic verstummte und plötzlich überkam ihn das Bedürfnis, zu flüchten. Er fühlte sich exponiert, hatte sein wohl behütetes Inneres nach außen gekehrt... Wieso eigentlich? 'Ich glaube, das kann man Mitleid nennen, liebster Hohensayn. Du wolltest ihm helfen, mit seiner Situation klarzukommen. Ist dir eigentlich schon aufgefallen, dass du noch gar nicht genau weißt, welche Situation das ist?' Er begann unruhig auf seinem Stuhl hin- und herzurutschen und warf einen nervösen Blick zur Tür, während er noch überlegte, ob er bleiben sollte oder lieber doch die Flucht ergreifen.

"Du bist also letztendlich der Meinung, dass du der einzige bist, der hier Probleme hat, ja? Nur weil du verdammt nochmal schwul bist?" Eigentlich hatte Clue nicht so reagieren wollen, denn Dominic hatte ihm gerade eine Menge anvertraut. Vielleicht. Vielleicht log er auch nur das Blaue vom Himmel, um Clue ruhig zu stellen. Doch er konnte nicht anders, als so zu reagieren. Plötzlich wurde Clue richtig wütend - aus scheinbar unerklärlichen Gründen. "Jeder denkt das! Jeder!" Für einen kurzen Moment schloss er die Augen und holte tief Luft. 'Du weißt doch, Schätzchen. Wir hatten einfach Angst, dir die Wahrheit zu sagen.' - 'Du weißt gar nicht, wie das ist.. für uns. In dieser Welt zu leben - als das, was wir sind.' Clue ballte seine Hand zur Faust. "Auf dieser beschissenen Welt denkt scheinbar jeder nur an sich! Die anderen .. die sind völlig egal. Nein, es geht nur um sich selbst. Als hätten die anderen keine Probleme.. Was weißt du schon!"

Dominic erstarrte auf seinem Stuhl. Sein Gesicht verdüsterte sich. Hatte er nicht gerade versucht, Clue einfach was klarzumachen? Das war doch keine Selbstsucht. Ihn so falsch zu verstehen war doch eigentlich gar nicht möglich und Dominic war fast geneigt anzunehmen, dass das Böswilligkeit war und Clue ihn bewusst falsch verstehen wollte. Er lief langsam rosa an. Es begann an den Ohren und breitete sich über das gesamte Gesicht. Er bemühte sich, nicht loszuschreien, als er eine Erwiderung anbrachte.
"Pass mal auf, du..." Auch wenn Dominic sich im Laufe der Jahre ein doch beachtliches Repertoire an unflätigen Worten und Schmähungen angeeignet hatte, fiel ihm spontan keins ein, dass er Clue an den Kopf werfen wollte. Also fuhr er nach einer kurzen Denkpause einfach fort. "Was ich weiß oder nicht weiß, ist eigentlich schnurzpiepegal. Ich kann schließlich gar nichts wissen außer dem, was ich sehe. Und was ich sehe, ist dass offenbar nicht nur DU Probleme hast und auch nicht nur ICH Probleme habe. Jeder hat seine Probleme hier und für jeden sind die eigenen Probleme maßgeblich, weil das die sind, die einen beschäftigen. Es geht verdammt nochmal darum, dass man selbst mit seinen Problemen klarkommt. Wie soll denn bitteschön irgendjemand helfen, wenn sich jemand in seinen Problemen suhlt, statt damit umzugehen? Natürlich ist alles scheiße, aber das ist es bei jedem, das ist eine Grundkonstante des Lebens. Der Eine kann sich die Scheiße vergolden, der andere net, das war's aber auch schon!"
Dominic holte erst einmal Luft. "Sinnlos rumjammern bringt nichts. Dir nicht und denen, die es hören, auch nicht. Solang es keine Pointe gibt und die scheinst du offenbar überhört zu haben, interessiert das net."

Clue hätte alles erwartet. Irgendwelche Beleidigungen, Wutausbrüche. Alles. Doch im Vergleich zu dem, was Clue sonst so kannte, blieb Dominic erstaunlich ruhig. Er hatte Recht. Eigentlich hatte Dominic wirklich Recht. "T..t..tut mir leid", stammelte Clue leise. "Das war.." Unsicher zuckte er mit den Schultern und senkte seinen Blick. Die ganze Wut war wieder wie weggeblasen. Dominic hatte gar nichts dafür gekonnt, dass Clue so wütend geworden war. Es war nur die Macht der Erinnerung gewesen. Erinnerungen, die er zu gerne verdrängen würde und nicht konnte. Die Zeit heilt nur die äußeren Wunden, die inneren begleiten dich, damit du deine Vergangenheit nie vergisst...
Erneut holte Clue tief Luft und sah Dominic wieder an. "..Erinnerungen", beendete er seinen Satz schließlich doch noch. "Zu viele Erinnerungen, die durch meinen Kopf schwirren. Du kannst nichts dafür.. glaube ich." Alles was Dominic sagte, klang logisch und doch klang es auf irgendeine Art lächerlich. Man konnte sich nur selbst um seine Probleme kümmern. Und was, wenn das Probleme waren, für die man selbst gar nichts konnte? Was, wenn jeder andere erwartete, dass man seine Fehler verstand? Warum sollte Clue für die verdammten Fehler und Lügen seiner Eltern gerade stehen? Warum war er überhaupt hier? In Berlin würde es ihm besser gehen. Das wusste er.

Dominic brummte irgendwas unverständliches als Erwiderung auf Clues Entschuldigung und schloss dann die Augen. Er versuchte, an beruhigende Dinge zu denken, die dafür sorgten, dass er sich abregte. Er hatte alle seine Willensbeherrschung aufgebracht, um Clue keine Szene zu machen, aber innerlich hatte es schon in ihm gebrodelt. Jetzt musste er langsam abkühlen und das bedurfte einen Moment der Ruhe. Also schwieg Dominic und schottete sich von seiner Umwelt ab. Die Sekunden verrannen, dann hörte er das leise Klappern von Tassen auf ihren Untertellern. Der Tee kam. Die Kellnerin stellte die Tassen vor Clue und Dominic ab. Der öffnete die Augen. "Schon gut." Dann trank er schweigend einen Schluck Tee, weil er nicht wusste, was er jetzt noch sagen sollte. Er wartete einfach ab, ob Clue noch etwas sagen wollte.

"Danke", murmelte Clue leise. Auch wenn er selbst nicht so genau wusste, wieso er Dominic dankte. Weil er seine Entschuldigung akzeptiert hatte? Weil er ihm vertraut hatte? Weil er einfach da war? "Für alles", fügte er schnell noch hinzu. Irgendwie war Dominic merkwürdig. Doch Clue wusste, dass er den Jungen mochte. Eben gerade, weil er nicht wie die anderen war.
Eigentlich war es an der Zeit, das Thema zu wechseln. Doch Clue wusste nicht wirklich, was er sagen sollte. Langsam trank er einen Schluck seines Tees. Zu seinem Erstaunen schmeckte er doch relativ gut.
"Was hast du heute noch so vor?" Die Frage war ausgesprochen, bevor Clue feststellte, dass sie irgendwie etwas komisch klang. Doch da war es schon zu spät.

Dominic war innerlich ein wenig zufrieden mit sich, dass er so umsichtig reagiert hatte und er nicht wieder einmal einen ausgewachsenen Streit am Hals hatte. 'Ich bin auch stolz auf dich, Hohensayn. Manchmal glaube ich, du bist sogar ein vernünftiger Mensch.' Er trank noch einen Schluck Tee und legte den Kopf schief. Clue hatte sich offenbar noch nicht genug unterhalten, was Dominic an und für sich gar nicht verstand. Er hätte kein Problem damit gehabt, bis zum Rest des Tages zu schweigen. Aber wenn Clue sich unterhalten wollte... Er war in die Situation reingeraten, also musste er mit ihr umgehen.
"Bücher lesen, mich um die Post kümmern, in den Dünen sitzen und warten, dass der Tag vorübergeht. All das, was man so macht, wenn ein Tag voll sinnloser Leere ist, weil es nichts Wichtiges zu tun gibt," antwortete er schulterzuckend. "Hast du noch irgendwelche Wünsche?"

Bücher lesen. Scheinbar lag dem Jungen vieles an Büchern. Clue lächelte. Beim Bücherlesen sollte er Dominic vielleicht nicht unbedingt stören. In Gedanken ging er die Orte durch, die er bereits auf Rungholt kannte und überlegte, was er später tun könnte, wenn Dominic seine Ruhe haben wollte. Auf die Frage nach seinen Wünschen schüttelte er den Kopf. "Nein, eigentlich nichts Bestimmtes. Ich werde wohl einfach mal abwarten, was auf mich zu kommt." Anaximander hatte er fast schon vergessen, Clue kam überhaupt nicht auf die Idee, sich zu beeilen oder nach dem reinblütigen Jungen Ausschau zu halten. Wenn man bei Dominic am Tisch saß, war wenigstens die Gefahr, angesprochen zu werden, relativ gering.

"Oder wer," erwiderte Dominic. "Anaximander wird es sich nicht nehmen lassen, dich noch in seinem kleinen exklusiven Kreis der sozial hochgestellten Reinblütern willkommen zu heißen, von dir erwarten, dass du deine Fehler bekennst, vor ihm zu Kreuze kriechst und Abbitte leistest, dass du dich mit mir abgegeben hast. Ich wette, er hat auch irgend ein Reinigungsritual entwickelt, damit er jede Spur eines Kontakts mit mir von dir entfernen kann. Und dann werdet ihr irgendwelchen ultrageheimen Reinblüterdinge tun... Ich beneide dich sooooo sehr." Dominic klang beißend spöttisch. Dann verdrehte er die Augen. "Was für ein Widerling. Wenn der auftaucht, verdrück ich mich, da musst du allein durch, das muss ich mir echt nicht geben." Er trank noch einen Schluck Tee und rutschte auf seinem Stuhl ein Stück nach unten. Er fühlte sich wieder einigermaßen entspannt. Der Baldrian tat offenbar seine Wirkung.

Dominic brachte Clue zum Lachen. Auch wenn der Junge wusste, dass Dominic alles, was er sagte, ernst meinte - ganz genau so, wie er es sagte, musste er grinsen. "Du brauchst mich nicht beneiden. Ich kann ja Fotos machen und dir danach dann von den geheimen Dingen erzählen", meinte Clue lachend. Dann schüttelte er den Kopf und wurde wieder ernst. "Ich weiß nicht. Meinst du, wenn wir hier sitzen - immer noch zusammen - kommt er überhaupt? Vielleicht will er ja gar nicht mehr in deine Nähe und deswegen.. vergisst er mich?" Clue fing an, auf seiner Lippe herumzukauen, während er sich im Irrlicht umsah. "Wäre mir echt sehr viel lieber, wenn er mich vergessen würde."

Dominic schüttelte den Kopf. "Das ist geheimer Reinblüterkram, der geht mich als ausgewiesenes Mischblut nichts an und interessiert mich eigentlich auch gar nicht. Ich glaube, das ist in meiner Vorstellung viel ekliger als in der Realität. Da ist das wahrscheinlich ganz profan. Aber man nimmt den Veranstaltungen doch ihren Nimbus und Anaximander hat nichts anderes als seinen Nimbus." Er lächelte schief, zumindest für einen Augenblick, dann wurde seine Miene wieder so ernst, wie sie normalerweise aussah.
"Aber ich glaube nicht, dass er vergisst. Er ist nachtragend. Und wenn du unauffällig werden willst, müssen die Haare ab und der Nachname geändert werden. Du solltest ganz schnell einen Muggel heiraten, dann bist du ihn los. Ansonsten kann er es sich nicht entgehen lassen, dich kennenzulernen und irgendwie wird er das schaffen. Du kennst das doch: Man muss die Leute mit Verbindungen kennenlernen, Kontakt zu seinesgleichen halten... Damit man dann irgendwelche Vorteile daraus ziehen kann." Er schüttelte den Kopf. "Und sowas nennt sich elitär."

Clue grinste zögernd. "Es gäbe noch eine andere Möglichkeit, Anaximander aus dem Weg zu gehen..", fing er langsam an. Dominic würde ihn wahrscheinlich hassen, für das, was ihm durch den Kopf schwirrte. Doch das würde ihn retten. Vor allem. Die ganze Schule würde ihm aus dem Weg gehen - zumindest der Teil, der mit Anaximander verbündet war. "Was wäre, wenn ich auch schwul wäre?" Immer noch grinste Clue, doch andererseits hatte er etwas Angst vor Dominics Reaktion. Er würde das Ganze nicht so sehr als Spaß sehen, wie Clue es momentan tat. Und was würde nur Sternchen von dieser verrückten Geschichte halten!

Dominics Miene verfinsterte sich augenblicklich, als Clue seine Idee aussprach. Er fand, dass das kein Thema war, mit dem man Späße machen sollte, auch nicht, wenn es gegen Anaximander ging. "Schwachsinn," brummte er deshalb auch als erste Reaktion. "Wenn du's nicht wirklich bist, solltest du dir die Scherereien nicht an's Bein hängen wollen." Dominic schüttelte den Kopf. "Wieso solltest du dir seinen Unwillen auf dich ziehen, statt dich einfach von ihm fern zu halten? Ich fänd das ätzend, wenn man mich bei jeder Gelegenheit mobben würde für etwas, das gar nicht stimmt. Das ist noch beschränkter als Anaximanders Mobbing." Er schnaubte.
"Außerdem, hast du mal über die Konsequenzen nachgedacht? Erstens wird Anaximander sicherlich irgendwen kennen, der wen kennt, der dann auch deine Eltern kennt und dann käme denen die ganze Geschichte zu Ohren und du ständest doof da. Und wenn du ne Freundin finden würdest, müsstest du dich vor Anaximander so oder so rechtfertigen und ihm sagen, was er für ein blasierter Affe ist... Und wärest als Lügner in der schlechteren moralischen Ausgangslage." Er verdrehte die Augen. "Außerdem ist das kein Thema, mit dem man Scherze macht," fügte er knurrend hinzu, bevor er augenverdrehend und genervt ob der Konsequenzen (der folgenden Befürchtung) noch eine letzte Befürchtung hinzufügte. "Und man stelle sich vor, welche Begeisterung manch harmoniesüchtiges, neurotisch romantisches Wesen hier auf Rungholt beschließen würde, die beiden Schwulis zum Pärchen zu machen. Darauf kann ich wirklich verzichten. Also überleg dir gefälligst was anderes."

Es kam, wie Clue sich schon gedacht hatte. Natürlich war Dominic ganz und gar nicht begeistert von seiner genialen Idee. Clue zuckte mit den Schultern. "Dann eben nicht." Dass Anaximander irgendjemanden kennen würde und dadurch Clues Eltern kennen würde, war relativ unwahrscheinlich, aber das ahnte Dominic ja nicht. Und auch von Sternchen wollte er Dominic nicht erzählen. Was war denn die richtige Rechtfertigung dafür, dass Sternchen ein Muggel war? Nun, gut, wenn es nach Clue ginge, spielte es überhaupt keine Rolle, ob jemand zaubern konnte oder nicht, ob jemand auf Besen flog oder ob er einfach zu Fuß ging, aber das sahen die meisten Reinblütler anders. "Mhm, vielleicht.. will er jetzt ja gar nichts mehr mit mir zu tun haben.. oder so", murmelte Clue nachdenklich. Die Szene am Watt war ja nicht gerade sehr erfreulich für Anaximander gewesen. Clue hatte ihn für Dominic stehen gelassen. Das musste doch wie ein Schlag ins Gesicht für den Jungen gewesen sein. Jemand entschied sich gegen ihn und für Dominic! "Und wenn.. nunja, nach einem Gespräch ist das sicherlich eh vorbei." Clue zuckte grinsend mit den Schultern. "Je nachdem, wie gut - oder eher wie schlecht - ich mich anstelle.."

"Erst denken, dann sprechen," erwiderte Dominic in der Annahme, dass er Clue mit seinen Gedanken davon überzeugt hatte, dass er da auf eine große Schnapsidee gekommen war. Er sinnierte noch einen Augenblick darüber nach, vor wem er sich besonders hüten müsste, wenn jemand anderes auf die absurde Idee kommen würde, sich auf Rungholt zu outen, um nicht in die Fänge einer gemeinen Kupplerinnenbande zu geraten. Dann wandte er sich nervös wieder Clues Thema zu und blickte ihn auch wieder an.
"Für Anaximander gibt es nur Freund oder Feind. Du bist es also, der seine Nähe oder Ferne suchen muss, um Ruhe zu haben. Aber wie willst du es als Reinblüter anstellen, dass er kein Interesse an dir hat? Oder hast du genügend schwarze Schafe in der Familie, um ihn damit gegen dich aufzubringen?"