Nachhilfeunterricht (Amabella/Eustach)

Er hatte es gewusst... Früher oder später würde jemand bemerken, wie große Probleme Eustach mit dem Schreiben und dem Lesen hatte. Schließlich war es Magister Schnawitzki gewesen, der Geschichtslehrer, der den Jungen nach dem Unterricht nach vorne zitiert hatte und ihm etwas zum Lesen vorgelegt hatte. Und nachdem Eustach sich stotternd von Buchstabe zu Buchstabe gerettet hatte, hatte der Lehrer ihm erklärt, er würde wohl um Nachhilfeunterricht nicht herumkommen und er werde deswegen mit Professor Klotterbeck sprechend.

Damit hatte ein neues Kapitel in Eustachs unglücklichem Leben begonnen, denn Professor Klotterbeck hatte entschieden, dass eine der älteren Schüler den Nachhilfeunterricht geben sollte und ihm schließlich eines Morgens beim Frühstück mitgeteilt, dass Amabella Moorstein von den Elwetritschen, ihm im Lesen und Schreiben Nachhilfe geben würde. Man habe bereits mit ihr gesprochen und Eustach solle sich heute Nachmittag nach Schulschluss bei ihr melden.

Eustach hatte erst überlegt, ob er sich einfach irgendwo verstecken konnte und behaupten, er habe Amabella nicht gefunden oder es vergessen, aber er sah wenig Hoffnung, damit durchzukommen. So hatte er nach dem Mittagessen seinen ganzen Mut zusammen genommen und war zu Amabella an den Tisch getreten. "Hullu", murmelte er. "Professor Klotterbeck hat gesagt, ich soll mit Dir reden."

Etwas schüchtern blickte sie zu Eustach hoch, der zu ihr an den Tisch gekommen war. Man hatte ihr vor ein paar Tagen mitgeteilt, dass sie dem kleinen Jungen Nachhilfe geben sollte, da er starke Defizite im Lesen und Schreiben hatte und so im theoretischen Teil fast immer durchfiel.

"Hallo Eustach. Komm setz dich. Die anderen wollen jetzt zum Strand, also werden sie uns nicht stören. Hast du ein Heft und ein Stift dabei?" fragte sie, während sie ihren Teller an die Seite schob und ein kleines Buch aus ihrer Tasche holte. Sie hatte ihre Mutter gestern noch eine Eule geschickt und hatte heute morgen ein Buch für Erstklässler von ihr erhalten. Wie gut, dass ihre Mutter Grundschullehrerin war.

"Wir beginnen jetzt?", entfuhr es Eustach und das Entsetzen war seiner Stimme anzuhören. Er hatte erwartet, dass er jetzt Freizeit hätte und sich von dem Unterricht am Vormittag hätte erholen können. Aber er hätte es besser wissen müssen. Natürlich würde er heute auch noch Hausaufgaben zu erledigen haben und da machte es wenig Sinn, ihm jetzt noch Freizeit zu lassen. Dennoch schien der Welt mit einem Schlag alle Farbe zu entweichen. Eustach ließ den Kopf hängen. "Ja, meine Schultasche habe ich hier", kapitulierte er unglücklich. "Da sind alle meine Schreibsachen drin."

Amabella schaute Eustach lächelnt an. "Nur keine Sorge, für deine Hausaufgaben hab ich ein wenig Aufschub gewinnen können. Nur wird dafür vorrausgesetzt, dass du dich einige Wochen mit mir triffst, damit du lesen und schreiben lernst."

Amabella legte ihm das Buch vor. "Schau dir die Buchstaben nacheinander an und sag mir wie sie heißen. So kann ich feststellen, ob du die Buchstaben schon alle kennst."

Gespannt sah sie Eustach an.

Eustach schluckte die aufkeimende Bemerkung, dass er doch lesen und schreiben könne, eilig wieder herunter. Er wusste, dass er es wirklich nicht gut konnte, da er immerhin nur wenige Tage gehabt hatte, um es lernen zu können und sein Vater alles andere als geduldig und umgänglich war - nicht nur bei solchen Dingen. Die Aussicht, von seinen Hausaufgaben erst einmal befreit zu sein, ließ die Vorstellung an einen zusätzlichen Unterricht mit dem älteren Mädchen aber nicht mehr in einem so schlimmen Licht erscheinen.

Gehorsam sah Eustach auf das Buch, das erstaunlich große und wenige Buchstaben auf den einzelnen Seiten hatte. Dennoch machte es das dem kleinen Jungen nicht viel sympathischer. "Fff", las er den ersten Buchstaben. "Uh." Da endete das Wort und machte so keinen Sinn für Eustach. Aber egal. Er wagte nicht aufzusehen, während er die nächsten Buchstaben las. "Rr - uh - fff - t", buchstabierte er sich weiter. "Ruft", wiederholte er, als das Wort endete und das dritte begann. "Uh - t..." Er stockte kurz. "Ah?", riet er.

[OOC: Falls sich einer fragt... Das ist der erste Satz aus dem Buch, mit welchem ich als Kind lesen gelernt habe: "Fu ruft Uta." und der nächste war "Uta ruft Fu." Fu war eine Socke mit Knöpfen als Augen und er hatte einen Freund, der eine blaue Socke war und dessen Namen ich verdrängt habe... *grins-breit*.]

Erstaunt stelle Amabella fest, während sich Eutach abmühte, dass der Junge fast gar nicht lesen konnte. Sie konnte sich eben so noch eine Frage nach seinem häuslichen Umfeld verkneifen. Am Anfang des Schuljahres hatte sie die blauen Flecken gesehen. Außerdem wusste sie, dass er nichts warmes aß. Aber danach fragen gehörte sich nicht, also würde sie sich nur auf das schulische konzentrieren.

"Ja, ich sehe, einige Buchstaben kennst du schon, aber dir fällt es schwer die Buchstaben in Wörter zu verwandeln. Dieser Satz heiß: Fu ruft Uta. Fu ist diese Socke da, siehst du. Und Uta ist das kleine Mädchen dadrüben. Heutzutage heißt wohl keiner mehr Uta, aber der Name ist so schön einfach. Lies mal den nächsten Satz. Und dann schreib die beiden Sätze ab und sag mir, warum einige Buchstaben groß und andere klein geschrieben werden."

Amabella wusste, dass diese Frage vielleicht schon zu schwer war, aber sie musste den Jungen ja auch fordern, denn nur weil er nicht schreiben und lesen konnte, hieß das nicht, dass er dumm sei.

Eustach begutachtete kurz die Socke und fragte sich, warum eine Socke Fu heißen sollte und warum sie Uta rief. Seine Socken riefen nie nach ihm, hatten aber auch keine Knopfaugen. Da sich Eustach in seinem bisherigen Leben unnötige Fragen abgewöhnt hatte, da man bei diesen selten eine Antwort bekam - jedenfalls selten eine verbale und die Frage beantwortende, machte er sich an den nächsten Satz, der etwas leichter war, da er das ganze nur andersherum darstellte. Entsprechend hatte Eustach damit kaum ein Problem: "Uh-taaa ruft Fu-h."

Dann begann er, den Satz abzuschreiben oder eher gesagt: abzumalen. In den ersten Wochen auf Runholt hatte er gelernt, Buchstaben möglichst schnell zu Papier zu bringen und so sahen seine Buchstaben auch aus. Aber so lange er nur etwas abschreiben musste, war es nicht ganz so schlimm. Problematisch wurde es, wenn er selbst Worte schreiben musste, die er nicht vor sich hatte und von welchen er nicht die geringste Ahnung hatte, wie man sie schrieb. Ein paar hatte er durch stetige Wiederholung inzwischen gelernt, aber es fehlten einfach noch zu viele.

Auf Amabellas Frage musterte er die beiden Sätze einen Moment ratlos. "Weil es Namen sind?", schlug er dann zögernd vor.

Amabella beobachte Eutach genau, daher fiel ihr dirket auf, dass er die Sachen nicht abschrieb, sondern mehr malte. Er hatte also keine Ahnung, wie man Buchstaben schrieb. Aber auch dafür hatte sie vorgesorgt. Sie holte ein weiteres Büchlein heraus. Es war ein Arbeitsheft und Eutach musste es jetzt in den nächsten Tagen wohl oder übel bearbeiten.

Als Eustach dann endlich fertig war mit abschreiben und versuchte ihre Frage zu beantworten, musste sie leicht grinsen: "Ja, sie sind Namen. Und Namen werden immer groß geschrieben. Aber nicht nur Namen, auch andere Bezeichnende Worte, wie Tisch, Stuhl, Sand, Düne, Meer, Essen, Trinken etc. Sie sind dadurch charakterisiert, dass man ein der oder die oder das davor packen kann. Also der Tisch, der Stuhl und das Meer. Der,die, das wird immer kleingeschrieben. Eine Ausnahme gibt es alerdings, wenn die Sachen am Anfang eines Satzes stehen. Weißt du was ein Satz ist und welche zwei Sachen auf jeden Fall in einen Satz gehören, damit es ein Satz ist?"

Während sie auf seine Antwort wartet, markierte sie Übungen, die Eutach gleich, oder als Hausaufgabe lösen sollte.

Wenn Eustach gedacht hatte, dass die Nachhilfe bei Amabella weniger wie ein richtiger Unterricht sein würde, hatte er sich getäuscht. Vermutlich war das Mädchen aus gutem Grund ausgewählt worden. Wäre sie eine Magister, es hätte Eustach nicht verwundert. Er versuchte sich, die Dinge, die sie sagte zu merken (damit hatte er meist keine Probleme) und bereitete sich bereits mental auf eine Frage vor, die auch prompt kam und ihn wie üblich nervös werden ließ, weil er die Antwort nicht sofort wusste.

"Ein Punkt?", sagte er und dachte an das, was Amabella gerade gesagt hatte. "Und ein Großes Wort am Anfang?" Wobei er nicht ganz sicher war, welches die großen Buchstaben waren und welches die kleinen. Bei ein paar war das recht schwer zu entscheiden. Zum Beispiel bei dem "L", das einmal aussehen konnte wie ein "i", aber wohl nur, wenn das "i" großgeschrieben wurde. Eustach schwirrte schon jetzt der Kopf...

Amabella seufzte schwer. "Kann es sein, dasto weder kleine noch große Buchstaben kennst? Ich denke, wir fangen bei den Grundlagen an und die schweren Fragen verschieben wir ein paar Tage nach hinten."

Dabei schob sie ihm das Übungsbuch zu.
"Fang mit der ersten Übung an. Der Buchstabe ist das U, wie in Uta. Es gibt ihn in klein und natürlich in groß. Außerdem noch in Schreibschrift. Aber wie du siehst, sieht das u fast immer aus wie ein U. Mal das mal ein paar mal nach und dann sagts du mir, ob du weißt, was der Unterschied zwischen Druck- und Schreibschrift ist."

So langsam kam Amabella die ganze Sache irgendwie komsich vor. Der Junge war nicht dumm und eigentlich werden Zauberer entweder zu Hause unterrichtet oder zusammen mit anderen Zaubererkindern, so wie sie. Eustach hier aber schien keinerlei Vorkenntnisse zu haben.

"Anschließend murmelte sie ihm noch zu: "Ein großes Wort bedeutet nur, dass der erste Buchstabe groß ist... nur noch mal zur Erinnerung." Dann legte sie ihm aufmunternt ihre Hand auf den Arm.
"Mach mal!" grinste sie.

Erschrocken zuckte Eustach zusammen, als Amabella ihm ihre Hand auf den Arm legte. Der ganze Nachhilfe-Unterricht versetzte ihn in Panikstress, aber eine körperliche Berührung ließ ihn stets im ersten Moment einfach nur erschrecken. Zum einen war er es nicht gewohnt, zum anderen war Amabella ein Mädchen und die waren für Eustach schon erschreckend genug durch ihre alleinige Existenz.

"Doch, doch, ich weiß schon", brachte er gepresst hervor und vertiefte sich eilig in das Schreiben seiner Buchstaben. "Große Buchstaben am Satzanfang und bei Namen und bezeichnende Worte", wiederholte er das, was Amabella vor wenigen Augenblicken gesagt hatte. "Schreibschrift...ist geschriebene Schrift und Druckschrift ist Schrift in Büchern?" Er hatte durchaus bemerkt, dass die Buchstaben in den meisten Büchern ganz anders aussahen und in älteren Büchern zudem noch einmal vollkommen andersartig.

Amabella zog nur eine Augenbraue hoch, bei Eustachs verhalten. Sie wusste nicht so wirklich, ob sie den Jungen auf sein Verhalten ansprechen sollte, oder lieber nicht.

Stattdessen versuchte sie sich weiterhin auf die Übungen zu konzentrieren.

"Ja, so ähnlich stimmt das. Druckbuchstaben stehen in Büchern, sie haben bestimmt Merkmale, wie getrennte Buchstaben im Wort oder immer gleiches genormtes Aussehen. Schreibschrift hingegen ist gekennzeichnet durch zusammenhängende Buchstaben und je nachdem wer schreibt auch durch unterschiedliches Aussehen."

Dann stockte sie kurz und schaute den kleinen Jungen noch mal prüfend an: "Und jetzt sagst du mir, warum du weder schreiben, lesen, rechnen kannst, du blaue Flecken am Arm hattest, du kein warmes Essen isst und du bei kleinen Berührungen fast vor Schreck stirbst!"

Eustach prallte förmlich zurück, als Amabella ihn schließlich das fragte, was sich wohl schon einige andere Schüler auf Rungholt heimlich gefragt hatten. Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte, weil er keine Ahnung hatte, was sie hören wollte und es nicht in Frage kommen würde, die Wahrheit zu sagen. Auch wenn er immer den anderen Schülern noch immer mit Misstrauen begegnete, so hatte er inzwischen doch bemerkt, dass sie ihn nicht schlugen - anders würde es ihm mit seinem Vater ergehen, wenn er schlecht über ihn sprechen würde. Er war froh, dass er von zu Hause weg war und er hatte wenig Bedarf seine Ferien, die sich nicht verzögern ließen, noch unangenehmer zu gestalten als ohnehin schon.

Dennoch war Eustach auch klar, dass er nicht gar nichts antworten konnte, wie er es am liebsten getan hätte. Er entschied sich daher dafür die am wenigsten unangenehme Fragen zu beantworten und zu hoffen, dass Amabella damit zufrieden wäre. "W-weil ich nicht zur Schule gegangen bin?", versuchte er eine einfache Antwort zu formulieren. "U-und ich nicht schnell genug gelernt habe, als mein Vater es mir gezeigt hat?"

Das wäre die Antwort gewesen, die sein Vater wohl erwartet hätte. Die blauen Flecken würde er einfach leugnen können, wenn sie ihn weiter fragte, das mit dem Essen...nun er mochte das furchbar heiße Zeug einfach nicht und das mit der Berührung... "Ich mag einfach nicht angefasst zu werden." Eustach fasste seinen Bleistift fester und malte weitere "U"s auf sein Papier, damit er den Eindruck erweckte, etwas zu tun zu haben und man ihn nicht störte.

Obwohl Eustach stotterte und zögerte, hatte Amabella sehr wohl verstanden, was dieser kleine Junge so krampfhaft versuchte zu verheimlichen - sein Vater schien ihn nicht nur verwahrlosen zu lassen, was allgemein bekannt war unter den Minsiteriumsmitarbeitern, sondern er schien ihn auch misshandelt zu haben. Außerdem hat er seine Aufsichtspflicht verletzt, indem er Eustach das Lesen und Schreiben nur Ansatzweise beigebracht hatte. Letzteres würde wohl für einen Fürsorgeprozess nicht reichen, aber das mit den Misshandlung war etwas ganz anderes. Traurig beobachtete sie Eustach, wie der weiterhin Us schrieb oder eher malte.
Nach einigem Überlegen und längerem betretenen Schweigen, sprach sie ihn allerdings doch wieder an. Dem armen Kind musste man doch helfen.
"Möchtest du weg von zu Hause?" fragte sie ihn leiser. Wenn er nun wollte, dann könnte er so tun als hätte er sie nicht gehört, was nichts daran ändern würde, dass Amabella im Geist bereits einen Brief an ihre Eltern verfasst hatte. Oder er könnte sie beantworten. Aber selbst bei einem Nein, würde sich Amabella nicht mehr umstimmen lassen, etwas zu unternehmen.

Überrascht sah Eustach auf. "Aber ich bin doch von zu Hause fort", brachte er schließlicn heraus. Natürlich würde er in den Ferien in die Kate zurückkehren, aber etwas anderes war auch nicht möglich. Wohin sollte er, wenn nicht nach Hause? Er konnte kaum auf der Straße schlafen, ganz davon zu schweigen, dass sein Vater es nie zulassen würde. So sehr er auch seinen eigenen Sohn zu hassen schien, so sehr war darauf bedacht, Eustach zu Hause zu behalten und hatte sich der Anordnung, dass Eustach nun zur Schule gehen musste nur widerwillig gebeugt.

Amabella lächelte ihn traurig an: "Ja, im Moment bist du fort, aber Weihnachten rückt näher und in den Ferien wirst du zu ihm zurück müssen. Was meinst du, wie lange es dauern wird, bis es wieder eskaliert?" Diese Frage war nur rhetorisch gemeint und sie erwartete immer noch eine Antwort dadrauf, ob er von seinem Vater weg will oder nicht. "Du hast eine Wahl." fügte sie noch leise hinzu.

Dann beschäftigte sie sich mit den Us, die Eustach schon geschrieben hatte. "Sehr gut, nun versuch dich auf der nächsten Seite mit dem T. Das gibt es wieder in vier variationen, aber alle sind sich ähnlich."

Eskaliert? Was um alles in der Welt bedeutete dieses Wort? Eustach starrte auf das Blatt vor ihm, während Amabella leise säuselnd, wie es für ihn klang, weitersprach. "Was für eine Wahl?", wollte er wissen, während er sich beeilte, mit den "t"s anzufangen. Er hatte zwar das Gefühl, dass sie ihm nichts Böses wollte, aber er traute Menschen grundsätzlich alles zu oder verstand jedenfalls nicht, dass es Leute geben konnte, die anderen grundlos helfen wollten. Eigentlich verstand er noch nicht einmal, dass es etwas gab, bei dem er Hilfe benötigen könnte...