Abendliche Flugmanöver

Es begann bereits dunkel zu werden. Die jüngeren Kinder mußten bereits in den Langhäuser sein und würden bald schlafen gehen. Nur die älteren durften noch etwas Freizeit draußen genießen. Anjun schlenderte den Weg zum Qudditchplatz herunter. Das Wetter war nicht besonders gut. Den Tag über hatte es sich immer weiter bewölkt und Wind war aufgekommen. Vielleicht würde es bald sogar anfangen zu regnen. Aber Regen hatte ihm noch nie etwas ausgemacht. Besonders dann nicht, wenn er fliegen gehen wollte.

Timon verließ das Langhaus mit einem Brief an sein Elternhaus in der Hand. Und das, obwohl er erst vor einigen Tagen einen recht langen nach Hause geschrieben hatte. Lang war dieser jedoch noch nur geworden, weil er hauptsächlich aus einer Liste an Dingen bestand, die Timon zu Hause vergessen hatte und er nun seine Eltern schriftlich darum bat, sie ihm nachzuschicken. Diese waren die 'Tradition', die ihr Sohn jetzt schon seit sieben Jahren pflegte, schon gewohnt, ebenso wie die Tatsache, dass Timons erste Liste, die er nach Hause schickte, nur etwa ein Drittel von dem beinhaltete, was dem Sohn wirklich noch fehlte. Gewöhnlich folgten in den nächsten Tagen noch mindestens vier weitere Briefe mit Ergänzungen. Und einen dieser "Ergänzungsbriefe" hielt Timon nun in seiner Hand, nachdem ihm der peinliche Umstand aufgefallen war, für nur etwa eine Woche Unterhosen eingepackt zu haben. Außerdem besaß der Junge eine magische Kamera, die ebenfalls noch zu Hause liegen musste.

Zudem hatte Timon beschlossen, noch eine Runde auf dem Besen zu fliegen, der Gang nach draußen lohnte sich also sogar doppelt. Eigentlich hatte er Högni fragen wollen, ob er mitkommen wollte, doch Högni war schon den ganzen Abend über unauffindbar gewesen. Und so war Timon nun alleine draußen unterwegs.
Nun, nicht ganz alleine. Etwas weiter unter sich konnte er einen Schüler erkennen, der offenbar auf dem Weg zum Quidditchfeld war. Neugierig, um wen es sich wohl handelte, legte Timon einen kleinen Zwischensprint ein, um die Person einzuholen. Als er den Schüler erreicht hatte, erkannte er Anjun, der vermutlich eine ähnliche Idee wie Timon gehabt hatte und den restlichen Abend für einen kleinen Flug auf dem Besen nutzen wollte.
„Hi, Anjun“, grüßte Timon und hob die brieffreie Hand.

„Guten Abend, Timon.“, grüßte der Nachtkrabs wie immer recht förmlich, aber keineswegs unfreundlich zurück. „Auch auf dem Weg zum Besenschuppen? - Mein Besen hat gestern einiges abbekommen und ich muß seine Flugeigenschaften testen, bevor wir wieder Kunstflug haben.“ Die beiden Jungen besuchten zusammen den Kurs bei Magister Greifenklau. So wie die meisten, die Quidditch spielten. Es war eine ideale Ergänzung, die Anjun sehr viel Spaß machte. Allerdings mußte er bis zur nächsten Schulstunde alle Borsten wieder gerade gebogen haben. Abgesehen davon wollte er den Bindungzauber weiter auf sich selber einstimmen. Er warf einen Blick in den Himmel, der lilagrau und bedeckt war. Die dickem Wolken zogen schnell dahin. „Es kommt Sturm auf. Das ist gut, um zu testen was er unter schwierigen Bedingungen drauf hat.“

"Dein Besen hat hoffentlich keine bleibenden Schäden abbekommen?", erkundigte sich Timon sofort besorgt. Er wusste, dass Anjun einen sehr guten Besen besaß und allein der Gedanke, dass diesem bei dem Manöver gestern etwas passiert sein könnte, war für einen leidenschaftlichen Quidditchspieler wie Timon beinahe unerträglich. "Das war gestern wirklich große Klasse, wie du Eustach und dich heil auf den Boden bringen konntest", fügte er anerkennend hinzu, "nicht jeder hätte das geschafft."
"Ich muss noch einen Brief abschicken, aber dann hab ich auch noch vor, eine Runde zu fliegen", antwortete Timon nun auf Anjuns erste Frage. "Du hast Recht, das Wetter ist wirklich ideal, um seinen Besen mal auf schwierige Bedingungen zu testen." Sein Blick fiel auf den Brief, den er immer noch in der rechten Hand hielt. Eben war ihm ein Gedanke gekommen. "Ich denke, ich werd nachher einfach schnell mit dem Besen zur Eulerei hochfliegen", überlegte er laut. "Das ist schneller als zu Fuß."

„Danke.“ Anjun nahm das Kompliment mit einem leisen Lächeln und einem Kopfnicken entgegen. „Schön, dass Du auch wieder dabei bist.“, gab er es wieder zurück.

Von seiner Position aus hatte Timon sicher alles sehr genau beobachten können. Sein Tor war kaum in Gefahr gewesen, so dass er als Hüter einen guten Überblick über das Spielgeschehen hatte. Neben den Suchern, hatten wohl die Hüter generell den besten Einblick in das Potential der einzelnen Spieler. Darum tat das Lob gut, auch wenn die beiden Jungen bislang nicht sehr viel zusammen zu tun gehabt hatten.

Timon hing meist mit Högni zusammen und die beiden schienen jede Menge Spaß und abenteuerliche Ideen zu haben. Anjun hatte vorgehabt mit Högni so ein gewagtes Flugmanöver wie am Walpurgistag zu wiederholen, aber immer hatte der jüngste Blauzahn bereits etwas mit Timon vorgehabt und konnte nicht. Es war nicht so, dass er eifersüchtig war, aber er wußte nicht recht wie er mit Timon umgehen sollte. Er hatte den Eindruck, dass der Elwetritsche zwar ähnlich mutig, aber alberner und unbeständiger war als Högni und damit konnte er nicht so gut umgehen.

Die beiden Jungen erreichten den Besenschuppen und Anjun schloß auf. Drinnen war es schon schummrig, die Hitze des Tages staute sich in unter dem hölzernen Dach und und trieb einem sofort den Schweiß aus allen Poren. „Wo fliegst Du am liebsten?Bei diesem Wetter mag ich es über das Meer zu fliegen. Wenn es dann auch noch anfängt zu regnen... Das ist so elementar.“ Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, Timon das anzuvertrauen, aber da er der besten Freund von Högni war, konnte er kein allzu schlechter Kerl sein. Außerdem spielte er gut Qudidditch, was immer ein Bonus war.

Anjun holte schnell seinen Rennbesen aus dem abschließbaren Fach mit seinem Namen, schnappte sich sein Putzzeug und ging nach draußen, wo der Wind die schwüle Luft erträglicher machte.

Meer und Regen. Irgendwie passte es zu Anjun, dass er diese Elemente zum Fliegen bevorzugte, dachte Timon, auch wenn er den Jungen kaum kannte. Natürlich hatten die beiden zwangsläufig gelegentlich miteinander zu tun, immerhin besuchten die beiden zusammmen zwei AGs, hatten einige Wahlfächer gemeinsam und dann war da natürlich noch das Quidditch, doch mehr verband Timon und Anjun eigentlich nicht. Timon war die meiste Zeit mit Högni zusammen und Anjun – nun, was der so den ganzen Tag trieb, konnte Timon gar nicht genau sagen, dafür sah er den Anderen zu selten. Er wusste, dass Anjun häufiger mit Anaximander zusammen war, gelegentlich sah er die beiden im Gemeinschaftsraum - der Snob-Club, wie Högni und Timon sie manchmal im Spaß als Anspielung auf deren Herkunft nannten.

Während er ebenfalls seinen Besen und sein Pflegeset aus dem Fach holte, antwortete er auf Anjuns Frage. „Am liebsten? Eigentlich über große Wälder.“ “Wieso eigentlich?“ Darüber hatte Timon noch nie genauer nachgedacht, wie ihm eben auffiel. Innerlich zuckte er mit den Schultern. Philosophische Gedanken machte sich Timon eher über andere, weniger ernsthafte Themen. Zum Beispiel darüber, ob es irgendwo in seiner Truhe ein Loch zu einer anderen Welt gab, in der seine ganzen verloren gegangenen Socken zuhause waren.
„Aber auf den Meer ist es auch ziemlich cool“, fügte er hinzu, als er nach Anjun ins Freie trat, „vor allem, weil wir das zuhause nicht haben.“ Er grinste schief. Rein geographisch gesehen war Timon einer der Schüler, die am weitesten von Rungholt entfernt wohnten, die wenigen ausländischen Schüler, die es auf der Schule gab, nicht mitgezählt.

„Über Wäldern zu fliegen ist auch ganz schön.“, erwiderte der junge Baccaracus entgegenkommend. Er dachte an die unendlichen Wälder rund um die heimatliche Burg. Den Tannenforst, dunkel und rauschend über dem es an heißen Sommertagen harzig duftete, den Rabenwald mit den weit ausladenden Eichen und lieblichen Buchen und natürlich den Wald der Zentauren, undurchdringlich und wild. Dort konnte man die kleine Herde ziehen sehen und aus der Luft einen kleinen Einblick in das Leben dieser wunderbaren Geschöpfe erhaschen. Während er einige Borsten grade bog, schien sich ein Hauch von Sehnsucht über sein aristokratisches Gesicht zu legen. Er zeigte nicht viel von seinen Gefühlen. Nur wer sehr aufmerksam war, konnte die Veränderung erkennen. „Du kommst vom Bodensee, oder?“, fuhr er fort. Ihm fiel auf, dass er nicht allzu viel über den anderen Jungen wußte. Das mit dem Bodensee hatte er auch nur irgendwo aufgeschnappt. Der rothaarige Nachtkrabs holte etwas von der Spezialtinktur hervor, die er in den Sommerferien gekauft hatte und warf einen Seitenblick zu Timons Besen, um zu sehen mit welchen Mitteln der Elwetritsche ihn pflegte. Als Hüter musste Timon seinen Besen für explosionsartige Kurzsprints, eher schon Sprünge, optimieren.

„Ja, vom Bodensee. In der Nähe von Konstanz, falls dir das was sagt“, antwortete Timon. „‘ne ganz nette Ecke, wenn du mich fragst. Vor allem natürlich im Sommer, wenn man im See baden und segeln kann.“ Er unterbrach sich kurz und begutachtete seinen Besen. Gestern Abend hatte er nur noch für die allernötigste Besenpflege Zeit gehabt, weswegen er sich heute umso intensiver damit beschäftigen wollte. Zunächst bog er ebenso wie Anjun einige Borsten gerade. Polieren würde er den Besen erst nach dem Fliegen, davor hatte das wenig Sinn.

„Und du kommst“, Timon überlegte kurz, „irgendwo aus dem Rheinland, oder?“ Für einen Moment glaubte er, fast so etwas wie Heimweh auf Anjuns Gesicht zu erkennen, aber es war schon dunkel und im nächsten Moment schaute Anjun wieder ohne erkennbare Gefühlsregung auf seinen Besen. Bestimmt hatte das schwindende Tageslicht Timon einen Streich gespielt. Der Junge öffnete die kleine Ledertasche, in der sich sein Besenpflegezeug befand, und kramte nach der kleinen Flasche „Dr. Preps Rennbesen-Spezialtinktur“, die er sich in den Ferien neu gekauft hatte. Doch außer der Besenpolitur, einiger anderer Pflegemittel und der kleinen Reißigzange war nur das alte, aufgebrauchte Fläschchen in der Tasche. „Ach, so ein Mist“, murmelte Timon. „Ich hab meine Spezialtinktur zuhause vergessen“, fügte er erklärend für Anjun hinzu. „Du hast nicht zufällig eine Feder hier?“ Eigentlich eine überflüssige Frage, musste Timon sich eingestehen, denn warum sollte Anjun zum Fliegen Schreibzeug mit sich herumtragen?

„Eine Feder nicht.“, erwiderte der junge Baccaracus und ein listiges, vielsagendes Schmunzeln zeigte sich auf seinen feinen Zügen. „Aber Spezialtinktur. Sie ist etwas anders, als die Du üblicherweise verwenden dürftest, aber die Wirkung wird Dich überraschen!“ Er reichte dem anderen Jungen die dunkelbraune Glasflasche. Mit feiner, gestochener Handschrift war auf dem Etikett etwas in lateinischer Sprache geschrieben. Ganz offensichtlich kein handelsübliches Produkt. Schon gar keine Massenware.

„Ja, ich komme aus dem Rheinland.“, nahm Anjun das Gespräch wieder auf, während er kritisch sein Werk betrachtete. Er wollte seinen Besen in tadellosen Zustand bringen.Seine Eltern hatten ihm niemals Schlampereien mit seinem Besen durchgehen lassen. Auch wenn er Zuhause Heinzel dafür gehabt hatte, war es ihm in Fleisch und Blut übergegangen das Fluggerät stets gut zu pflegen. Ein Besen war für einen Zauberer ja nicht irgend etwas. „An einem Altarm des Rheines in Rheinland-Pfalz. Das Zauberschloß. Du weißt schon...“

"Ähm...danke", Timon nahm das Fläschchen entgegen und beäugte es. Eine derartige Flasche hatte er noch nie in einem Laden für Quidditchbedarf gesehen. Nun, man erwartete von Anjun auch nicht, dass dieser seine Besenpflegemittel im Laden um die Ecke kaufte. Während Timon die Tinktur auftrug, erwartete er schon beinahe, dass etwas Außergewöhnliches passierte, ein Rauchen oder Leuchten oder Ähnliches, obwohl er ja schon bei Anjun gesehen hatte, dass nichts dergleichen geschah. Natürlich ärgerte es ihn gewaltig, dass er seine eigene Tinktur zuhause hatte liegen lassen. Da kein Schreibzeug in der Nähe war, musste er die Tinktur wohl im nächsten Brief nach Hause erwähnen. Doch der Ärger über die eigene Vergesslichkeit hatte schon beinahe vollständig der Neugier, was für ein geheimnisvolles Mittel in Anjuns Fläschen war, Platz gemacht.

"Ja, das Baccacarus-Zauberschloss", erwiderte Timon, "natürlich hab ich schon viele Geschichten darüber gehört." Er grinste. "Es würde mich nicht wundern, wenn es in der Schulbibliothek sogar eine eigene Abteilung dafür gäbe."
Als er fertig war, gab er Anjun das Fläschchen zurück. "Verrätst du mir, was passiert, bevor ich auf den Besen steige, oder muss ich es selbst herausfinden, während ich fliege?", fragte er und ein unternehmungslustiges Funkeln trat in seine Augen.

„Wie wäre es, wenn wir es gemeinsam herausfinden?“, fragte der Rothaarige zurück und auch in seinen Augen glitzerte die alte Lust am Fliegen. Er beendete seine Politur, stellte sich mit einen Bein auf das Ende seines Rennbesens und schraubte sich auf dem Besen wie auf einem Surfbrett stehend in einem rasanten Bogen um Timon herum in die Lüfte. Aus seiner erhöhten Position grinste er den Elwetritschen an, als wolle er sagen, er solle sich doch gefälligst beeilen.

Eilig stopfte Timon den Brief an seine Eltern in die Hosentasche und schwang sich auf den Besen. Im Senkrechtflug steil nach oben folgte er Anjun, bis er sich auf einer Höhe mit dem Nachtkrab befand. "Da bin ich ja mal gespannt", teilte er Anjun mit und flog einen Bogen um die Torringe, dann einen leichten Zickzack. Etwas Außergewöhnliches konnte er jedoch noch nicht feststellen. Probehalber machte er einen kleinen Looping, doch auch dabei war alles wie immer. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Anjun, um zu sehen, ob bei dessen Flugmanövern etwas Ungewöhnliches geschah.

Der junge Baccaracus beobachtete mit einem hintergründigen Lächeln die schwungvollen Manöver Timons. Der Junge erwartete offenbar Wunder. Nun, er würde sie erleben - in anderen Flugsituationen. Er selber ließ sich nun da er in die Luft geschnellt war gemächlich treiben, um zu sehen wie Nebel sich machte. Der Wind hier oben war schon recht stark und die lilafarbenen Wolken verhießen baldigen Platzregen. Anjun freute sich schon darauf. „Was ist“, rief er dem Elwetritschen zu. „Du willst doch sicher nicht nur auf dem Quidditschplatz bleiben. Mir steht der Sinn nach einem Inselrundflug. Wir können ja in der Eulerei anfangen. Dann kannst Du Deinen Brief abgeben.“

„Na dann los“, gab Timon zurück, beschleunigte seinen Besen und zischte an Anjun vorbei in Richtung der Eulerei. Immer noch versuchte er herauszufinden, was denn nun die geheimnisvolle Eigenschaft von Anjuns Spezialtinktur war, und so stürzte er sich wagemutig in die verrücktesten und halsbrecherischsten Flugmanöver. Zuletzt flog er eine Figur, die sie letztes Jahr im Kunstfliegen gelernt hatten. Der Junge grinste Anjun an, der natürlich längst hinterhergekommen war, und beschleunigte dann wieder voll. Gerade, als er beinahe die Höchstgeschwindigkeit seines Besens erreicht hatte, geschah etwas Sonderbares, etwas, das anders war als sonst. Im ersten Moment konnte Timon gar nicht genau beschreiben, was passierte. Er fühlte, wie sein Besen ein wenig ruckelte, wobei, eigentlich war es nicht viel mehr als ein leichtes Vibrieren. Kaum spürbar, aber doch eindeutig da. Aber da geschah noch etwas. Verwirrt drehte sich Timon zu Anjun um. Ob der wohl etwas damit zu tun hatte?

Anjun hielt sich entspannt lächelnd kurz hinter Timon, der seinen Besen jetzt mit Höchstgeschwindigkeit flog. Zumindest glaubte er das. Aus dem listigen Lächeln des Nachtkrab wurde ein breites Grinsen, als Timons Besen plötzlich einen Sprung nach vorne machte. Es war als hätte man ein zweites Triebwerk gezündet. So jedenfalls hätte Anjun es beschrieben, wenn er nicht so ein snobistischer Reinblüter gewesen wäre und in Muggekunde besser aufgepasst hätte. Jedenfalls wurde Timon nach vorne geschleudert, als der Besen über die Geschwindigkeit hinaus ging, die Nebel von ihm gewohnt war. Anjun hatte seinen Zauberstab gezogen. Man konnte ja nie wissen, was passierte. Immerhin waren die Erwartungen, die ein Hüter an seinen Besen stellte andere als die eines Feldspielers. Wahrscheinlich ging Timon davon aus, dass sein Fluggerät vor allem auf Wendigkeit im engstem Raum optimiert war. Dass er jetzt plötzlich Rennqualitäten zeigte, mußte ihn überraschen.

Gerade als Timon sich zu Anjun umdrehte, machte sein Besen einen Satz nach vorne und legte eine Geschwindigkeit an den Tag, die jenseits von allem lag, was der Junge bisher von seinem Fluggerät gewohnt war. Damit hatte Timon nun wirklich nicht gerechnet. Er wurde nach vorne geschleudert und flog kopfüber, als hätte ein bockiges Pferd ihn abgeworfen, über das Stielende seines Besens hinaus. Glücklicherweise hatte er recht gute Reflexe und schaffte es daher, sich mit beiden Händen am Besenstiel festzuklammern, während der Rest seines Körpers einen astreinen Vorwärtssalto machte.

Der Besen war nahezu sofort wieder zum Stillstand gekommen. Er schwebte wieder ruhig, als wäre nie etwas geschehen, in der Luft. Nur mit dem Unterschied, dass Timon jetzt nicht mehr darauf saß, sondern mit beiden Händen und recht verdrehter Armhaltung am Besenstiel hing. Trotzdem schaffte der Junge es, den Kopf zu Anjun zu drehen und diesen durch seine Armbeugen hindurch breit anzugrinsen. „Wow. Das war echt cool“, teilte er dem Nachtkrab begeistert mit, während er mit einer Hand umgriff, um seine Arme wieder in eine normale Position zu bekommen. „eine Turbo-Tinktur. Wahnsinn.“

Anjun hatte vorsichtshalber eng zu Timon aufgeschlossen, um ihm zu helfen, falls er in Schwierigkeiten geriet. Aber der Junge war nicht umsonst in der Flugkunst AG und so lachte er, als er abrutschte und wie an einem Reck am Besen hing.

„Ist das die neue Art zu fliegen?“, fragte er mit fröhlichem Grinsen. „Vielleicht sollte ich das auch mal ausprobieren.“ Mit einer schnellen und eleganten Bewegung schwang er sich einmal um seinen Besen und baumelte dann, die Kniekehlen fest um den Stil gepresst, kopfüber hin und her.

„Tsja, der Meister Ferara weiß schon, wie er seine Besen baut und Flugtinkturen herstellt. Sehr selten, aber mit durchschlagendem Effekt.“ Helle, blaue Augen funkelten Timon kopfüber an, während die seidenfeinen, roten Haare sich herabhängend wie Flammen im aufkommenden Wind bewegten.

"Durchschlagend ist wohl das passende Wort dafür", stimmte Timon zu. In seinem Kopf klingelte etwas, als Anjun den Namen des Herstellers erwähnte. Von den Besen, die Meister Ferara herstellte, hatte er schon einmal gehört. Natürlich gab es nur eine begrenzte Anzahl davon, alle hochexquisit und für den normalen Durchschnittszauberer kaum bezahlbar.
"Eine original Flugtinktur von Meister Ferara", wiederholte Timon den Namen anerkennend. "Manchmal beneide ich dich, Anjun."

Er musste lachen, als sich Anjun kopfüber an seinen Besen hängte. Vor seinem inneren Auge erschien das Bild eines Affen, den Timon einmal in einem Muggelzoo gesehen hatte. Die Ähnlichkeit war verblüffend, obwohl Anjun doch ein eleganteres Erscheinungsbild besaß.

"Das muss eben ja wahnsinnig blöd ausgesehen haben", grinste er. "Wie ich nach vorne katapultiert wurde, oh Mann! Wie ein Reitanfänger in seiner ersten Stunde."

Anjun machte eine Welle und brachte sich so wieder in die normale Flugposition. "Erste Reitstunde?, wiederholte er mit fragendem Unterton interessiert. "Reitest Du?" Mittlerweile schritten die Bemühungen des Pegasus-Clubs voran, doch er fragte sich ob er in den Elwetritschen vielleicht einen weiteren Unterstützer finden konnte.

Timon lachte. "Reiten? Ich? Das wäre wohl reichlich übertrieben", antwortete er. "Als ich jünger war, vielleicht fünf Jahre alt, haben mir meine Eltern zum Geburtstag einen Junior-Pegasusreitkurs spendiert. Du kennst das ja vielleicht, lauter Kinder so ab vier Jahren, die unter Aufsicht ein bisschen auf Pegasuspferden rumturnen dürfen", er grinste. 'Rumturnen' war hier wohl nicht der ideale Ausdruck, 'einfach nur draufsitzen' hätte es wohl besser getroffen. Aber Anjun wusste vermutlich ohnehin, was gemeint war.

"Auf jeden Fall hat mir das dann ganz gut gefallen, und so bin ich ein paar Jahre dabei geblieben", erzählte er weiter, "bis ich irgendwann sogar in Grundzügen gelernt hab, wie man richtig auf einem Pegasus reitet. Aber nach ein paar Jahren, als ich dann so neun Jahre alt war, hat sich das irgendwie verlaufen...vielleicht, weil ich damals meinen ersten Besen bekommen habe, der mehr als einen Meter über dem Boden schweben konnte", vermutete er und sein Grinsen wurde noch breiter, als er sich an damals erinnerte. "Aber lustigerweise ist mir in den ganzen fünf Jahren nie so etwas passiert wie das eben", fügte er noch hinzu, während er sich endlich auch wieder auf seinen Besen schwang.

„Für alles gibt es ein erstes mal.“, sagte Anjun philosophisch und beschleunigte seinen Besen wieder. Inzwischen hatte es begonnen zu regnen. Einzelne dicke Tropfen fielen herab und der Wind zerrte an ihren Roben, aber das störte ihn nicht allzu sehr. Im Gegenteil. Es gab ihm das Gefühl lebendig und stark zu sein. „Hast Du schon von unserer Initiative gehört Pferde und Pegasuse nach Rungholt zu bringen? Vielleicht magst Du dich uns anschließen. Dann könntest Du Deine Reitstunden fortsetzen. Auf einem fliegenden oder auf einem nicht fliegenden Pferd.“

"Hab davon gehört, ja", antwortete Timon nachdenklich. "Ich hab auch kurz darüber nachgedacht, ob ich zu dem ersten Treffen kommen soll, aber dann hab ich den Ansturm von pferdenärrischen Fünftklässlerinnen gesehn und das hat mich dann doch etwas abgeschreckt...kommt ihr denn voran?", fragte er, denn wenn er ehrlich war, konnte er sich das nicht wirklich vorstellen. Pferdenärrische Fünftklässerinnen waren nicht gerade für ihr Organisationstalent bekannt und ganz alleine konnten Anjun und Anaximander auch nicht wirklich etwas erreichen.

Auch Timon bemerkte die ersten Tropfen und beschleunigte seinen Besen wieder. "Lass uns schnell zur Eulerei fliegen", rief er Anjun zu, denn durch den pfeifenden Flugwind war es schwierig, den jeweils anderen zu verstehen. "Sonst muss ich meinen Brief nochmal schreiben."

Der rothaarige Nachtkrabs beschleunigte wortlos und hielt so schnell wie möglich auf den Glockenturm zu. Unterhalten konnten sie sich noch später. Jedenfalls sofern Timon kein Weichei war, der nicht bei Regen flog. Aber davon ging Anjun nicht aus. Bis jetzt war ihr kleiner Ausflug recht unterhaltsam gewesen und Timon hatte sich als weniger leichtfertig erwiesen als befürchtet. Er schien ein ganz feiner Kerl zu sein. Vielleicht sollten sie das Manöver über dem Meer zu dritt probieren?

Der junge Baccaracus jagte voran. Wind und Regen schlugen ihm ins Gesicht, als sie den Turm mit seinen verschiedenen Fenstern auch schon erreicht hatten. Eine Eule landete gerade, schüttelte die Federn und shuhute irritiert, als plötzlich zwei Jungen neben ihr in der Luft schwebten.

Timon lenkte seinen Besen nahe an eines der großen Fenster und kletterte dann über die Fensterbank ins Innere des Turmes. Er schaute sich kurz nach einer Schuleule um, suchte sich die aus, die ihm am nächsten saß, und band ihr den Brief um das Bein, das die Eule gnädigerweise vorstreckte. Timon bedankte sich, indem er dem Waldkauz (oder zumindest glaubte er, dass es einer war) kurz übers Gefieder strich. "Aber bitte erst losfliegen, wenn's nicht mehr so stark regnet", schärfte er dem Vogel noch ein, ehe er sich zum Gehen wandte.

Er stellte sich wieder auf die Fensterbank und wollte gerade wieder auf den Besen steigen, als sein Blick auf Anjun fiel, der mittlerweile schon ordentlich nass geworden war. "Du willst doch noch weiterfliegen?", erkundigte er sich scherzhaft, "oder hast du Angst, dir einen Schnupfen zu holen?"

Der Regen hatte schon deutliche Spuren auf Anjuns Robe hinterlassen, das Haar klebte ihm an der Stirn und daraus liefen dicke Tropfen über den Nacken. Dennoch lächelte der Junge: "Wir sind doch nicht aus Zucker! Auf geht es!" Er wartete bis Timon aufgestiegen war und beschleunigte dann seinen Besen. Mit rasanten Auf- und Abschwüngen hielt er auf den Strand zu.

Nachdem Timon wieder an seiner Seite war, nahm er das Gespräch von vorhin wieder auf. "Du hast recht. Die Organisation ist nicht ganz leicht. Wir sind zwar auch einige Ältere Anaximander, Shouky, Coco und ich, aber viele sind Fünft- und Sechsklässler, die eher Vorgaben erwarten, als selber zu machen. Von daher könnten wir tatkräftige Unterstützung gebrauchen."